Mittwoch, 13. Juni 2012

Über Sprache und Rechtschreibung

Bürgerbeteiligung und Bürgerdemokratie sind Schlagworte, die in jüngster Zeit an Gewicht gewonnen haben. Für eine der folgenreichsten Anmaßungen von Provinzfürsten und Bürokraten der letzten 20 Jahren kommen moderne Beteiligungskonzepte aber leider zu spät.

Weder die große Mehrheit der Bürger aller deutschsprachigen Staaten noch die Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform oder der Frankfurter Appell konnten verhindern, dass Ministerpräsidenten und Kultusminister ihren mit Sturheit und bar jeder Einsicht verfolgten Kurs durchhielten. Konsequent beschworen diese – Augen und Ohren zu – ein Dilemma herauf, aus dem bis heute kein Ausweg gefunden ist.

Gestärkt durch die damals kompromisslose Linie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, habe ich seinerzeit für mich beschlossen, mich als angestellter Lokalredakteur zwar notgedrungen den dienstlichen Anweisungen zur Anwendung der Rechtschreibung zu beugen, spätestens im Ruhestand aber wieder nach der alten Rechtschreibung zu schreiben. Ob mir das gelingen wird, wenn es in ein paar Monaten so weit ist? Heute glaube ich eher, dass das nicht mehr möglich sein wird.

Der Preis, den meine Generation, die noch Älteren und alle Jüngeren, die vor der Rechtschreibreform ihr Schulleben hinter sich gebracht haben, zahlen müssen, ist eine große Verunsicherung dort, wo früher einmal Sicherheit war. Was wird auseinander, was zusammen geschrieben? Das weiß heute kein Mensch mehr. Die jeweilige Version des Duden ist die eine Sache, die häufig davon abweichende gemeinsame Rechtschreibung der Presseagenturen und damit fast aller aktuellen Printmedien eine andere. Zum Schluss gelten eben beide Versionen – mal hier, mal dort. Ein kleiner Vorteil: Wir sind alle etwas toleranter geworden gegenüber manch eigenwilliger Schreibweise; sie könnte schließlich richtig sein!

Vielleicht sollte man es wirklich bei diesem Zustand belassen. Angeblich von den Dakota-Indianern stammt die Erkenntnis: Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab! Ist es an der Zeit, dies auf die Rechtschreibungsdebatte anzuwenden? Meine Urgroßmutter Ida Wünderich (1871-1961) schickte mir noch Anfang der 1950er Jahre, bis sie dann fast nichts mehr sehen konnte, zum Geburtstag eine Glückwunschkarte, auf der manches Wort mit "Th" geschrieben war, das nach meinem Verständnis hätte mit "T" geschrieben werden müssen. Sie ist einfach dem einst in der Schule Gelernten treu geblieben und hat sich um die Welt nicht geschert. Die aber auch nicht um sie. Mit ihr und ihrer Generation verschwand das alte "Th", ohne dass es heute noch beweint würde.

Ist es deshalb nicht egal, wie wir etwas schreiben? Ist ein Wort letztlich doch nur eine innerlich bedeutungslose Kombination aus einer Teilmenge von 26 Zeichen? Ich glaube nicht. Reiner Kunze hat das in seiner Schrift "Die Aura der Wörter" (Auszug) dargelegt. Was hindert einen also, nicht doch noch einmal zu kämpfen – in dem kleinen, bescheidenen Rahmen, den man hat? Vielleicht auch ein wenig die Gefahr, sich in zweifelhafter Gesellschaft deutschtümelnder Rigoristen wiederzufinden? Möglich.

In Köthen hat sich in der Folge der so schwer misslungenen und nur notdürftig nachgebesserten Rechtschreibreform eine Institution neu gegründet, deren Namenswahl Programm und Anspruch ist: die Neue Fruchtbringende Gesellschaft. Ob sie je die Bedeutung ihrer Vorläuferin erlangen wird, erscheint in einer modernen Gesellschaft mit ihrer Vielstimmigkeit und ihren Möglichkeiten mehr als fraglich. Ob sie überhaupt Wirkung erzielen kann, hängt auch davon ab, ob es ihr gelingen kann, einflussreiche Literaten und Journalisten für sich zu gewinnen nicht nur den unermüdlichen Reiner Kunze, dessen Rede von 2007 unverändert Gültigkeit besitzt. Allerdings: Reiner Kunze wird nächstes Jahr 80. Es wird Zeit, dass er Verstärkung bekommt, am besten jüngere.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen